MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System

Atlas Musculatur: Physiologie VII

Erhard Thiele     033 Atlas Musculatur Gliederung       MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht     

 

VII/4. (M. pterygoideus lateralis)

 Der Lateralis besteht aus einem oberen und einem unteren Teil, die beide zu unterschiedlichen Phasen des Kaugeschehens unterschiedliche Aufgaben bei der Gelenksteuerung wahrnehmen. Der untere Teil leitet das Öffnen ein. Beide Teile arbeiten beidseitig beim Vorschub , einseitig beim Mahlen (Laterotrusion, kollateral). Der obere Teil steuert das Gelenk beim Schliessen, womit wir auch auf diese so speziell ausgebildeten Gelenke zu sprechen kommen. Die Kiefergelenke arbeiten stets als Gelenkpaar, aber in unterschiedlicher Weise, je nachdem, ob eine rein zur Mittellinie symmetrische Bewegung erfolgt, ob eine Öffnung in Kombination mit Seitwärtsbewegung vorgenommen wird, oder ein Vor-Seit-Schub. Auch ein geringer Rückwärtszug ist möglich. Dazu bedarf es einer speziellen Gelenkkonstruktion. Das Kiefergelenk ist ein Dreh- Gleit-Gelenk. Es hat – vereinfacht dargestellt – eine Pfanne mit angebauter Rampe und zum Gelenkkopf hin eine Knorpelzwischenscheibe als Schlitten. ( Ein etwas simplizistischer Vergleich wäre, wenn ein Wintersportler - das Gelenkköpfchen - auf einer dieser Plastikschüsseln mit Griffen zum Festhalten einen Schneehang hinunter fahren würde; das Ganze muss man sich dann noch kopfübergespiegelt vorstellen, die Schwerkraft beim Schlittenfahren wäre am Kiefergelenk die in Richtung Gelenkpfanne ziehende Muskelkraft. Vorteil dieses Vergleiches: Der Schlittenfahrer kann im ungünstigen Fall nach einem Ruck entweder vor oder hinter dem Schlitten zu sitzen kommen und sich den Hosenboden verletzen, wie das Gelenkköpfchen.)  Die Störungen hier überlassen wir den Gnathologen. Diese befassen sich sehr häufig mit im orofazialen System myofunktionell gestörten Patienten, wobei es sich meist um Spätfälle, Erwachsene oder Rezidive handelt. In diesen Fällen ist über das orofaziale System das gesamte stomatognathe und craniocervikale System – das übergeordnete – in die Symptomatologie hineingezogen. Ein vornehmlicher Grund dafür, dass wir bei unseren jüngeren Patienten Krankheitssymptome selten auch im stomatognathen System finden, liegt wohl darin, dass die Gelenkentwicklung erst mit Abschluss des Zahnwechsels vervollkommnet ist. Bei erwachsenen Kiefergelenkpatienten finden wir eine interessante Art von Zungendysfunktion, eine Ersatzfunktion oder Schutzfunktion der Zunge: Fehlen im Seitenbereich die Zähne ganz oder teilweise, so wird an dieser Stelle die Zunge zwischengelagert, um die Lücke zu füllen. Ersetzt man diese Zähne, so gerät anfänglich der Zungenrand beim Kauen zwischen die Kauflächen. Bei Knirschern wird nicht selten die Zunge als Aufbiss-Schiene zur Schonung zwischen die Kauflächen gelegt – ein schlechter Schutz. Gelenkschäden bei Erwachsenen durch Fehlfunktionen in unserem Bereich treten auf, wenn die Unterkieferhaltung mit verändert ist, wie beispielsweise bei frontalem und lateralem Zungenbeissen oder Beknabbern von Fremdkörpern und Gegenständen. Gelenkschäden treten auch als weitere Folge ein, wenn zunächst durch orofaziale Dysfunktionen die Zahnstellung verändert wurde, woraufhin dann das Gelenk ebenfalls mit in die Erkrankung hineingezogen wird. Alle Gelenkbewegungen, besonders die Kieferöffnung, werden, wenn nicht mit von der vorderen und antagonistisch der hinteren Halsmuskulatur aktiv betrieben (supra-, subhyoidale Muskulatur, Nackenmuskeln - siehe später-), so doch zumindest zwangsläufig zur Stabilisierung der Kopfhaltung von der vorderen und hinteren Muskulatur kompensiert. Beachten sollen wir, dass das Kiefergelenk ein Hängegelenk ist, auch bei unseren funktionellen Muskelübungen. Diese Funktion hatte es bereits, als wir noch auf allen Vieren gingen. Aufeinandergepresste Zahnreihen sind für die Gelenke ungünstig, besonders bei gleichzeitigem Verschieben des Unterkiefers in sagittaler Richtung (protrusiv oder retrusiv). Diese Haltungen sollten im Muskeltraining nie gefordert werden. Es ist vollkommen unnötig, weitere Korrelationen zwischen orofazialen Störungen und stomatognathen Symptomen aufzulisten. Man kann gut sagen, dass alle ungelösten orofazialen Fälle unweigerlich in stomatognathen Spätfällen münden, am häufigsten durch Veränderungen in der Zahnstellung (Kieferknochenschwund).

 

Funktionsbewegungen des Unterkiefers und deren muskulärer Hintergrund

Um die in den entsprechenden Kapiteln bereits angesprochene Verantwortlichkeit der Hyoidmuskulatur für die Unterkieferbewegung noch einmal zusammenfassend aufzuführen, sei hier eine sehr übersichtliche Tabelle aus Rauber-Kopsch [126, S. 744] wiedergegeben.

Senken des Unterkiefers (Abduktion):

Heben des Unterkiefers (Adduktion):

Mahlbewegung

Arbeitsseite

 

Balanceseite

M. digastricus

M. temporalis

M. digastricus

M. temporalis

M. mylohyoideus M. masseter M. mylohyoideus

M. pterygoideus medialis

M. geniohyoideus M. pterygoideus medialis M. geniohyoideus M. pterygoideus lateralis (Pars inferior)

M. pterygoideus lateralis (Pars inferior): Einleitung der Bewegung

M. pterygoideus laterali s (Pars superior):Fixierung des Caput mandibulae am Tuberkulumabhang

M. temporalis (Pars posterior) und M. pterygoideus lateralis (Pars superior): Stabilisierung des Caput mandibulae

 

 

Muskelübung:(wenn Sie diesem Link folgen, sollten Sie über Ihren Browser mit 'Pfeil zurück'auf diese Seite zurückschalten):

ÜBUNG beteiligter Muskel Aktion/Effekt
AUF UND ZU                                   049 Adduktoren: Temporalis, Masster Spannungsabbau, Harmonisierung, Orientierung
ERBSE                                                029 Kieferöffner und -schliesser Orientierung, Synchronisation, Kiefergelenke
GELENKÜBUNGEN                        201 (Kommentar zur Sammlung geeigneter Übungen) Allgemein therapeutisch
GELENKSTRECKEN                       096 Adduktoren, Spannungsabbau Entspannung durch Manipulation (Physiotherap.)
HINTENKAUEN                              071    Alle Kaumuskeln Koordination, Retrusivhaltung
KIEFERÜBUNGEN                          205 Übersicht für alle Muskeln zur Unterkieferbewegung Physiologischer Bewegungsrahmen
MASSETERÜBUNG                        118    Adduktoren Hypotone Muskeln auftrainieren
MAULSPERREN                              099     Gelenk- und Adduktorenmobilität Gewebestretching
MÜDEKAUEN                                 052       Kaumuskulatur Ruhigstellen durch Ermüden
SCHUBLADE -REIN'-ÜBUNG       028  Temporalis rostralis, Pterygoideus medialis Entspannung durch Orientierung
SEITENSCHUB                                137 Temporalis rostralis, Pterygoideus medialis, einseitig Entspannung durch manipuliertes Stretching
TAP-TAP'-ÜBUNG                         098   Kaumuskeln Tonusregulation durch Sensibilisierung
ZUNGENSTÜTZE                           089 Adduktoren Kieferschluss, Umleiten von den Adduktoren auf Zungenmuskulatur

                                

                           

                             Wie auf der vorigen Seite bereits angedeutet, gibt es einen Therpiekomplex, der die besondere Zuwendung durch die Muskelfunktionstherapie bedarf, die Erkrankung der Juvenilen Idiopathischen Arthritis (JIA). Hier besteht die Möglichkeit einer entzündlichen Veränderung der Gelenkgewebe (Pfannen- und Capitulumoberfläche, so wie Discus Intercondylaris und zugehöriger Bandapparat - siehe Schemazeichnung.

 

 In den ebenfalls zuvor genannten Veröffentlichungen auf der Website des CCMF wird eingehend darauf hingewiesen, dass bei dem in der Entwicklung befindlichen kindlichen Gesichtsschädel eine Schienung die Entwicklung verhindern würde, muss hier gemäss der speziellen Anatomie das Muskeltraining im Vordergrund stehen. Wie die nebenstehende Abbildung demonstriert, genügt es nicht, die Bemühungen auf die Entlastung der Adduktoren (Masseter und Temporalis) zu beschränken. Verspannte Adduktoren bedingen ein rotierendes Kippen des Unterkieferkörpers um eine im letzten Molaren gedachte Achse, wobei der Gelenkkopf nach cranial-mesial gekippt wird und die Gelenkbahn atypisch belastet (linke Abbildung, Bild 1 und 2) . Um dieser Bewegung zu begegnen, muss der Mandibulakörper in einem "Netz" von Muskelzügen gleichmässig ausgewogen aufgehängt werden (Bild 3 und rechte Abbildung). Hierzu muss die exterene Zungenmuskulatur - M. Styloglossus - , die Wangenmuskulatur und die Perioralmuskulatur mit herangezogen werden.

Bezüglich der hierfür erforderlichen Muskelübungen siehe unter dem jeweiligen Kapitel