MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System |
Atlas Musculatur: Physiologie,I |
Erhard Thiele 10 | Atlas Musculatur Gliederung | MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht |
1.1.2 Diskussion der Physiologie der Muskeln des Areals I
– Orofaciales System –
Die orofaciale Muskulatur soll hier vornehmlich unter Gesichtspunkten besprochen werden, die aus muskelfunktionstherapeutischer Sicht von Interesse sind. Hierzu wurde die aufgeführte Literatur zu Rate gezogen.
J. W. Rohen schreibt in seiner funktionellen Anatomie:
”Alle Muskeln sind quergestreift und verflechten sich stark, so dass ihre Bündel präparativ nur schwer voneinander zu trennen sind. Die unteren und lateralen Fasergruppen hängen mit dem Platysma zusammen. Alle Fasergruppen bilden zusammen ein funktionelles System, das ein vielfältiges Bewegungsspiel um die Mundöffnung herum erlaubt. Die komplizierte Konstruktion der mimischen Muskulatur im Bereich des Mundes lässt sich aus der funktionellen Notwendigkeit des Kauapparates allein nicht erklären. Hier hat sich über die mechanischen Funktionen hinaus ein hochdifferenzierter Bewegungsapparat entwickelt, der für die Sprache und die Ausdrucksbewegung des Gesichtes eine neue, zusätzliche Bedeutung erlangt.” [136, S. 241]
Stellen wir Betrachtungen über die Funktion an, so sehen wir die Muskulatur gern als das dynamische Element , das das knöcherne Skelett bewegt und so in dessen Dienst steht. Schon von der Entwicklungsgeschichte her ist jedoch die Muskulatur primär und dominant.
Das knöcherne Skelett hat sich in der Folge der Entwicklung ausgebildet und der Muskulatur damit zur Verbesserung der Funktion verholfen. Es ist durch sie geprägt, wird durch sie gestaltet und ist durch sie einer ständigen Anpassung und Formveränderung unterworfen.
Sehen wir das Verhältnis Muskulatur – Skelett unter diesem Blickwinkel ( die Knochen sind die Krücken der Muskulatur), so erkennen wir, dass – auch funktionell – das Hartgewebe in einem dynamischen Gleichgewicht von Synergisten und Antagonisten der Muskulatur eingebettet ist. Auf das Gesicht angewandt bedeutet das, dass das Gesicht in seiner Familienähnlichkeit nicht aus einer Knetmasse ähnlich modelliert und dann mit Leben erfüllt worden ist. Sondern: Die Programmierung der Muskelaktionen und des Tonus wurden vererbt und müssen dann durch Prägung des knöchernen Gerüstes zu dieser Familienähnlichkeit führen. Da bildhafte Vergleiche dem Verständnis dienlich sein können, möchte ich das orofaciale System mit Gesichtsschädel und Muskulatur darstellen als eine fragile harte Schale. Sehen wir diese als kugelartige antike Vase, die man aus ihren Scherben wieder zusammengefügt hat. In ihrem Inneren wird sie von einem Gummiball am Zusammenfallen gehindert, aussen von einer Gummihülle umkleidet. So erhalten wir eine Schichtung von ineinander steckenden Kugeln (wie die „Puppe in der Puppe“). Diese Kugelschalenanordnung besässe so im Zentrum einen Gummiball, und dieser drückte nach aussen – zentrifugal –, die Aussenhülle dagegen nach innen – zentripetal. Steht die Anspannung von Ballon und Hülle in ihrem Druck im Gleichgewicht, so erhält die Kugelschale zwischen ihnen, die ”Vase”, eine stabile Form. Unser ”Ballon” im Inneren wird dargestellt von der Zungenmuskulatur, unterstützt von der Mundbodenmuskulatur. Die ”Hülle” wird gebildet durch die orofaciale Muskulatur. Die ,Vase” ist der knöcherne Ober- und Unterkiefer mit den Alveolarfortsätzen und Zahnbögen. Dieses Bild kann uns gute Dienste leisten beim Verständnis der Physiologie und pathologischer Veränderungen. Hier, in der Diskussion der Physiologie, wollen wir uns nun zunächst der Hülle widmen, der orofacialen Muskulatur. In der Embryonalentwicklung ist unsere ”Gummihülle” als solche noch leichter zu erkennen. In Abb. 19 und 20 wurde ein Bild (Rauber-Kopsch) aus der siebenten Woche der menschlichen Embryonalentwicklung auf unser Modell projeziert (19), dagegen zeigt Abbildung 20 die mimische Muskulatur beim Erwachsenen (nach Rohen [136, S. 241).
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Abb. 16: Kugelschalenmodell |
Schemazeichnung zum Innen-/Aussen-Gleichgewicht der Kräfte am oralen System. Störungen können sowohl auftreten durch Luftdruckunterschiede wie durch muskuläre Inkongruenzen zwischen innen und aussen. Siehe hierzu auch die Bilder auf Seite 24. Häufig liegt eine Kombination der Ursachen vor. Den Ablaufmechanismus der Verformung bei einer solchen Störung verdeutlicht das Bild unten (16a). Zunächst wird für das geübte Auge nur das muskuläre Defizit sichtbar, später erfolgt dann eine Aufbiegung, Weichteilpartien drängen zwischen und beschleunigen den Prozess. Siehe auch Modellfoto Seite 24.
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