MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System

Atlas Musculatur: Fehlaktionen,I

Erhard Thiele     15 Atlas Musculatur Gliederung       MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht     

1.1.4 Abhandlung muskulärer Fehlaktionen in der Diskussion der Physiologie der Muskeln des Areals I

 – orofaziales System –

Wie im voraufgegangenen Kapitel besprochen (s. auch Zitat aus Gray’s Anatomy, [58, S. 533]), liegen uns noch wenige streng wissenschaftlich durchgeführte Beobachtungen vor. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass wir in unseren Betrachtungen (und spezialisierten Fachrichtungen) den Körper streng untergliedern und beispielsweise das orofaziale System am Rande der von uns gezogenen Begrenzung aufhören lassen.

Wenn wir uns wiederholt vergegenwärtigen, dass geringe Veränderungen in der Spannung der Muskulatur des Kopfes eine Neujustierung seiner balancierten Haltung nach sich ziehen, so müssen wir konsequent sehen, dass beim stehenden Menschen während des Kauens und Sprechens die Muskulatur der Zehen mit tätig ist. Ein zeitweiser oder gar ständiger Hyper- oder Hypotonus in Teilen der orofazialen Muskulatur muss also eine Kette von Muskelaktionen auslösen, die bis in die Füsse hinabläuft. Das ist eine elementare naturwissenschaftliche, physikalische Frage der Hebelgesetze. Diese Kette von Muskelaktionen stellt sich uns bisweilen zwingend dar, wie beispielsweise in der Tetraplegie, wenn Muskelaktionen ablaufen, die in ihrer Intensität nicht dosierbar sind und so den gesamten Körper aus dem harmonischen Muskelgleichgewicht bringen. Was gemeinhin bei der Öffnung des Mundes im ganzen Körper als feine Mitreaktion unauffällig simultan abläuft, schiesst hier über und wird so störend augenfällig. In unserem Körperbau balancieren wir nicht nur eine Kugel auf einem Stab, sondern eine exzentrisch sich drehende Kugel auf aufeinandergesetzten Stäben (seihe Abbildung 32). Diese Balance ist in allen Ebenen auf die feinste, sinnvollste Weise abgesichert durch die Züge von Muskeln und Sehnen. Jede von aussen herbeigeführte, tolerierte Änderung der Balance wirkt sich auf den Tonus der Muskulatur aus. Geschieht das gleichförmig über Stunden und in Wiederholungen über Jahre, so müssen Veränderungen eintreten. (Falsche, beengende Kleidung/Schuhwerk, falsche Haltung im Beruf oder auch Angewohnheiten mit Auswirkung auf Muskelaktion und -tonus.) Hierin liegt der Grund für Erfolge durch Therapie mit gezielten physiologischen Muskelübungen. Dies gilt nachweislich nicht nur für unseren Interessenbereich. In der Muskelfunktionstherapie im orofazialen System können wir daher auch nicht nur in ,unserer’ Region, sondern im gesamten Körper nützlich wirken. Hinzu kommt die oft beobachtete Verbesserung in der psychischen Grundhaltung bei gemeinsam mit dem Patienten erarbeiteten Erfolgen in der Muskelphysiologie Um Erfolge möglich zu machen, müssen wir die sich uns bietende Situation beurteilen können und erkennen, wo sich ein Fehler verbirgt. Wir wollen daher wieder anhand der aufgelisteten Aufstellung der orofazialen Muskulatur feststellen, wo Fehler auftreten können. Wir müssen davon ausgehen, dass Dysfunktionen genau so auf Muskelgruppen projiziert sind wie Eufunktionen. Man könnte sich daher fragen, welchen Sinn es ergibt, sich die Aktion eines Einzelmuskels vorzustellen. Aus der Betrachtung des Einzelmuskels ergeben sich verwertbare Erkenntnisse zu der Frage, zu welcher Fehlfunktion der Einzelmuskel fähig ist. 

So ist es vielleicht möglich, den überaus komplexen Wust von Dysfunktionen durchschaubarer zu machen. Als veranschaulichendes Modell sollen wieder das dreidimensionale Bild der Kugelschalenanordnung und das zweidimensionale der Radspeichenstruktur der Aussenmuskulatur dienen.