MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System |
Atlas Musculatur: Physiologie,I |
Erhard Thiele 12 | Atlas Musculatur Gliederung | MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht |
Abb. 19: Faserverlauf gemäss Embryonalentwicklung - Abb. 20: Faserverlauf gemäss Topographie
Um den Vergleich mit der Radspeichenstruktur tauglich zu machen, müssen wir dem Material der elastischen Züge allerdings noch zugestehen, wahlweise elastisch nachgiebig zu sein, sich starr zu verhalten und darüber hinaus auch aktiv kontrahierbar zu sein. Es resultieren daraus folgende Kombinationsmöglichkeiten: Der wulstige Nabenring zieht sich zusammen, die Speichen verhalten sich starr. Es resultiert für den Mundspalt eine Art Schnürbeutelverschluss, mehr oder weniger stark ausgeführt, wie beispielsweise beim Sprechen des Lautes ,O’ (phonetisch [o]*), beim Pfeifen oder beim Ballonaufblasen. Stellen wir nun die Speichen elastisch ein, so wird der Verschluss eher zu einer Sacköffnung, um die ein Band gebunden ist. Wir erhalten einen Rüssel, der bei kraftvoller Ausführung weniger druckdicht ist als die vorige Version; er lässt einen feinen Luftstrom zu, mit dem wir beispielsweise eine Kerze auspusten oder die Suppe kühlen. Spannen wir nun, als dritte Version, Speichen und Nabe, so erhalten wir die Trompeterstellung. Der Schnürbeutelverschluss von oben wird fest auf seine Unterlage (Zähne) gepresst, was zu einer minutiösen Dosierung eines etwaigen Luftstromes führt. Bleiben wir bei den Musikinstrumenten, spannen die Nabe fest an und lockern die Speichen ganz. Wir haben das Bild des Posaunenengels. Jetzt stellen wir die Nabe starr und ziehen die Speichen stark an. Es resultiert der Schlitzverschluss der mehr zum breiten Grinsen tendiert. Und da wir gerade beim Grinsen sind, können wir verschiedene Speichen verschieden stark anziehen. Alle Arten von abfälligem Grinsen bis zum holden Lächeln erscheinen (s. Gray [58]). Das alles kann symmetrisch ausgeführt werden oder unilateral (schiefes Grinsen).
Schon bei einer solchen groben schematischen Ordnung resultieren zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten, bei freier Kombination wird das Aufzählen schwierig. Die grosse Viel falt rührt her von der Kombinationsmöglichkeit der Kontraktion einzelner Speichen (so wie diese uni- oder bilateral). Hier müssen wir noch ein zusätzliches Moment einbeziehen: Dadurch, dass Muskelzüge anderen aufgelagert sind, wird den oben aufgezählten mehr zweidimensional in der Fläche ablaufenden Aktionen eine dreidimensionale Komponente verliehen. Wird ein tiefer liegender Muskel angespannt und nun zusätzlich ein schräg darüber verlaufender, so ergeben die zwei Vektoren eine zentripetal verlaufende Resultante; auch die gegenteilige Version ist durchführbar. Wir können also eine Muskelwelle rings um die Mundspalte laufen lassen, mit der wir praktisch eine Linse im Mundvorhof im Kreis herumpressen können. Vergegenwärtigt man sich die polyfunktionelle Steuerbarkeit, so lässt sich erahnen, was für ein bunter Strauss von Fehlern uns erwartet, die erkannt werden sollen. Das soll in einem folgenden Kapitel besprochen werden. Zunächst werden für einige in der Systematik beschriebene Muskeln in der dort vorgegebenen Reihenfolge funktionelle Besonderheiten zusammengestellt. Wir wollen hierbei bedenken, um das nochmals hervorzuheben, dass die genannten Muskelaktionen bei Patienten im Einzelfall zu einem die Gesichtszüge prägenden Dauerzustand geworden sind und damit das schädigende Ungleichgewicht verkörpern. Erinnern wir uns nun noch daran, dass bei der Embryonalentwicklungs bedingten Aufteilung des flächigen Hautmuskels genetische Unterschiede vorkommen und, dass man auch in der Gesichtsmuskulatur, wie ein Pianist seine einzelnen Finger, die einzelnen Muskelzüge differenziert trainieren (oder vernachlässigen) kann, so multipliziert dies die Vielfalt der Funktionen und Störungen.
Zur „funktionellen Anatomie“ der Mundspaltmuskulatur
Bislang wurden vorwiegend die anatomischen Gegebenheiten beschrieben. Im folgenden Text wird nun versucht zu verdeutlicht, wie sich der gewebige Aufbau der Muskulatur um den Mundspalt funktionell gegliedert darstellt. Hierbei fällt als charakteristisch auf die ringartige Anordnung der Muskelfasern im Orbikularis. Er bildet allerdings keinen kompletten Muskelring, sondern die Ringstruktur weist eine Brücke im Filtrum unter dem Nasenseptum und in den Mundwinkeln durch das einstrahlende Muskelgeflecht der Radiärmuskulatur auf, die generell antagonistisch zum Orbikularis eingestellt ist und, wie gesagt, in vielfältiger Weise dessen Kontraktionen variieren kann. Gegenstand dieser speziellen Diskussion ist jedoch nicht der anatomische Aufbau des Orbikularis, sondern seine Schichtung, wie sie funktionell ersichtlich wird. Betrachten wir den Ablauf der Kontraktion / Innervation des Muskelkomplexes in der Abfolge der Muskelfunktionsübung ,O’ – KIRSCHMUND – RÜSSEL, so wird offenbar, das wir in der Lage sind, drei konzentrische Ringe zu aktivieren, getrennt oder gemeinsam. Dies verdeutlicht auch die Abbildung 20-3. Wird der centrale, der innerste Ring kontrahiert, so lässt sich der Mundspalt fast punktförmig zusammenschnüren zu einem ,O'. Wird nun der mediale Ring, den wir uns zwischen dem äusseren und dem inneren denken müssen mit zusammengezogen, so schiebt dies den kontrahierten, inneren Ring nach rostral vor, es bildet sich ein „Knubbel“ aus den Lippen, der KIRSCHMUND. Wird nun auch noch der periphere, äussere Ring mit kontrahiert, so schiebt dies die beiden vorherigen, medial und central, vorwärts und es entsteht eine Art RÜSSEL. Lässt man nun beispielsweise nur den äusseren Ring kontrahiert, so „bauschen“ sich oder stauchen die beiden centraleren Anteile nach vorwärts auf und es entsteht eine Formation ähnlich der, wenn man einen Kartoffelsack eine Hand breit unter dem Rand zusammenschnürt = SCHNÜRSACK-ÜBUNG. Diese Formationen lassen sich nun „beliebig“ untereinander kombinieren und durch die „Radspeichen“ der einstrahlenden sternförmig angeordneten Muskelzüge hin- und her-ziehen. Bei dieser funktionellen Betrachtungsweise drängt sich die übliche anatomische Einteilung in eine in sagittaler Richtung flächige übereinander liegende Schichtung von aussen nach innen (Apfelringe) eher weniger auf. ( siehe Schemazeichnung unten). Die funktionelle Beweglichkeit lässt eher denken an eine Zwiebelringanordnung.
*1 Die einzelnen Sprachlaute werden mit den Symbolen der Association Phonetique Internationale bezeichnet:
[d] wie im Wort,du’, [t] in,Ton’, [l] in,leer’, [n] in,neu’, [s] in,Haus’, [z] in,so’, [ts] in,zu’, [J] in ,Schuh’, [ç] in,ich’, [r] in,Reh’, [m] in,man’, [f] in ,fein’, [k] in,Kern’, [o] in,Boot’, [i] in,Kiel’, [a] in ,Saat’, [u] in,Mut’ usw. |